„Na ja, das war jetzt eine Entscheidung aus dem Bauch heraus…“.
Das klingt fast wie eine Entschuldigung. Braucht es aber gar nicht zu sein. Oft sind das im Nachhinein die besten Entscheidungen, die wir getroffen haben.
Aber warum ist das so? Warum fehlt uns hier die Überzeugung, eine gewissenhafte Entscheidung getroffen zu haben, wohlüberlegt und unter Abwägung aller Fakten? Warum denken wir, nur unser Gehirn hat die eigentliche Entscheidungshoheit gepachtet? „Liebe geht durch den Magen“ – OK, für Emotionen kann er ja noch zuständig sein, aber Entscheidungen?
Denkste! – sagte sich der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio Damasio und hat seine bemerkenswerten Gedanken dazu in dem Buch „Descartes’ Irrtum“ festgehalten.
Seinen Forschungsergebnissen zufolge denkt der Bauch sehr wohl mit. Erstmals 1994 hat er seine Theorie der „somatischen Marker“ vorgestellt, die besagt, dass Gefühle oder Körperempfindungen keine Störfaktoren sind, die es zu eleminieren gilt, sondern im Gegenteil einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen Vernunft darstellen.
Die Auswertung bestimmter kapitaler Hirnverletzungen, nach denen sich die „normalen Hirnleistungen, wie Intelligenz, Aufmerksamkeit und Gedächtnis als nahezu unverändert zeigten, die Fähigkeit, in sozialen und persönlichen Bereichen vernünftige Entscheidungen zu treffen aber drastisch verschlechterte, ließ Damasio genauer hinschauen. Auffällig war bei allen Patienten eine einhergehende deutliche Gefühlsarmut. Dinge, die die Patienten vor ihrer Verletzung emotional intensiv berührt hatten, ließen sie nach der Verletzung weder etwas positives noch negatives empfinden.
Damasio leitete daraus ab, dass die Unfähigkeit, vernünftige Entscheidungen treffen zu können und die Gefühlsarmut untrennbar zusammenhängen:
Gefühle sind für gute Entscheidungen unentbehrlich.
Hirnforscher gehen heute davon aus, dass der menschliche Denkapparat über ein so genanntes emotionales Erfahrungsgedächtnis verfügt. Es beginnt schon vor der Geburt zu arbeiten und speichert Erlebtes auf einer nicht sprachlichen, unbewussten Ebene in Form von Gefühlen oder Körperempfindungen ab. Jede Erfahrung, die dort gespeichert ist,
wird mit einer Bewertung versehen. Dies geschieht nach folgendem Prinzip: Hat die Erfahrung das Wohlbefinden des Individuums gefördert, wird sie mit einem guten Gefühl markiert; war sie ihm abträglich, erhält sie ein schlechtes emotionales Etikett.
Trifft nun ein Reiz ein, sendet der Körper innerhalb von Sekundenbruchteilen entweder angenehme oder unangenehme Signale aus – je nachdem, welche Bewertungen im emotionalen Erfahrungsgedächtnis gespeichert sind. Damasio nennt diese Körperbotschaften positive beziehungsweise negative somatische Marker – abgeleitet vom griechischen Wort „soma“ für Körper, da sie vornehmlich in Nervengeflechten abgespeichert werden, die sich außerhalb des Gehirns befinden. Vor allem im Bauchbereich befinden sich stark ausgeprägte Nervengeflechte – wie recht hatte der Volksmund daher vom „Bauchgefühl“ zu sprechen.
Einige Menschen spüren die Signale, die von diesen Speicherorten ausgehen, direkt als Körperempfindungen, etwa als angenehme Wärme im Bauch oder Kribbeln in den Mundwinkeln. Negative Marker hingegen lassen ihre Beine zittern oder die Kiefer verkrampfen. Andere wiederum beschreiben ihre somatischen Marker als Emotionen.
Sie berichten von einem Freiheitsgefühl, das den Brustkorb zu weiten scheint, oder von Lebensfreude, die sich im ganzen Körper ausbreitet. Mitunter hören sich entsprechende Beschreibungen fast poetisch an: „wie das Aufblühen einer Sonnenblume im Bauch“, „wie orangerotes Funkensprühen“ – oder aber auch „wie würgende Hände am Hals“ beziehungsweise „wie eine Faust in die Magengrube“.
Es genügt soger, sich bestimmte Situationen nur vorzustellen, um einen somatischen Marker auszulösen. So ist es möglich, quasi Probeläufe schwieriger Entscheidungen durchzuführen, indem man sie im Geiste vorwegnimmt. Über das Signalsystem der somatischen Marker hat der Mensch jederzeit Zugang zu seiner gesamten Lebenserfahrung.
Leider ist die Fähigkeit, diese Signale wahrzunehmen, heute bei vielen Menschen verkümmert – unsere eigene Kopflastigkeit steht uns hier „dummerweise“ im Weg.
Und wenn wir sie spüren, schieben wir sie einfach beiseite oder ignorieren sie.
Um das in Zukunft zu verhindern, lassen sich somatische Marker gezielt einsetzen. Es gilt dabei, die Warnrufe des Körpers aufmerksam zu beobachten und bei Entscheidungen bewusst zu berücksichtigen. Weil diese Signale der persönlichen Erfahrung entstammen, liefern sie uns meist zuverlässige Anhaltspunkte dafür, was einem gut tut und was besser vermieden werden sollte. Die Aufmerksamkeit für das, was in Ihrem Körper geschieht, ist eine unverzichtbare Hilfe für Wohlbefinden und für kluge Entscheidungen.
In bestimmten Situationen empfiehlt es sich jedoch, entgegen seiner somatischen Marker zu handeln – etwa bei einem Zahnarzttermin. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis
holt vor dieser Entscheidung erst mal sämtliche gespeicherten unangenehmen Erinnerungen hervor und empfiehlt strikte Vermeidung. Hier zeigt sich der Vorteil eines planenden Verstands. Ein Mensch kann längerfristige strategische Ziele berücksichtigen – hier etwa dasjenige, seine Zähne gesund zu erhalten – und daher anders handeln, als die somatischen Marker ihm zunächst nahe legen. Darum geht er schließlich meist doch zum Zahnarzt, wenn auch unter Umständen mit schlotternden Knien.
Wenn Sie ab jetzt Ihren Bauch mitdenken lassen wollen, recht so! Fangen Sie aber vielleicht nicht mit der wichtigsten Entscheidung Ihres Lebens an. Nehmen Sie sich kleine Alltagsentscheidungen bewußt vor und tasten sich langsam weiter vor. Lernen Sie, die Signale Ihres Körper wahrzunehmen. Für manche ist das eine Reise in unbekanntes
Terrain – aber eine lohnende!